“Use the future to build the present”
Die Zukunft zu nutzen, um die Gegenwart zu bauen, das ist das Programm von GESDA – eine der spannendsten Organisationen, die ich im Kontext von KI kennenlernen durfte. Rund 4.000 WissenschaftlerInnen aus der ganzen Welt geben hier ihre Prognosen ab, was sich in ihrem Fachbereich in den nächsten 5, 10 und 25 Jahren ereignen wird. Das liest sich wie Science Fiction, mit der wir es bald zu tun haben werden.
Als Ergebnis veröffentlicht GESDA (Geneva Science and Diplomacy Anticipator) jährlich den „Science Breakthrough Radar“. Dieser beschreibt auf fast 400 Seiten, welche Quantensprünge uns etwa in KI, Robotik, Augmented Reality, Genetik, Medizin, Ernährung, Erneuerbarer Energie etc. bevorstehen. Rund 200 Forschungsbereiche werden hier konstant analysiert. Die letzte GESDA-Konferenz, die ich besuchte, fand am weltberühmten CERN in Genf statt. Denn ein Forschungsschwerpunkt von GESDA ist auch ein wichtiger Fachbereich am CERN: Quantenphysik und Quantencomputer. Die schier unvorstellbare Rechnerleistung, die uns dadurch bevorsteht, wird die KI in völlig neue Dimensionen katapultieren. GESDA initiierte nun das Open Quantum Institute am CERN. Ich konnte in Genf den Stiftungspräsidenten von GESDA interviewen, Peter Brabeck-Letmathe.*
Christoph Santner: Wir stehen hier im weltberühmten CERN in Genf. Viele Menschen haben zwar von Quantencomputern gehört, aber fast niemand weiß, was es damit genau auf sich hat. Spielt hier nun Genf mit diesem neuen Institut global eine zentrale Rolle?
Peter Brabeck-Letmathe: Ja, Genf ist schon heute stark im Quantenbereich engagiert. Das CERN hat bereits seine eigene Quantentechnologie-Initiative, und die Universitäten sind ebenfalls involviert. Was wir als GESDA beigetragen haben, ist die Antizipation, dass die ersten kommerziellen Quantencomputer in 5 bis 10 Jahren Realität sein werden. Wir beginnen heute schon sicherzustellen, dass Anwendungen für diese Quantencomputer entwickelt werden und für jeden auf der Welt zugänglich sind. Die Idee ist, dass Quantencomputing für das Wohl der internationalen Gemeinschaft eingesetzt wird und nicht nur für einige Unternehmen oder Politiker. Deshalb nennen wir es auch das OPEN Quantum Institute.
CS: Es soll also wie Open Source funktionieren. Das CERN ist ja weltweit bekannt und hat verschiedenste Erfindungen hervorgebracht, teils als Nebeneffekte, wie etwa das World Wide Web von Tim Berners-Lee, das hier erfunden wurde. Kann das bei Quantum auch der Fall sein? Und glauben Sie, dass Quantum unsere Welt zum Guten verändern wird?
BL: Es wird unsere Welt sicherlich verändern. Das ist auch der Grund, warum wir uns dem Quantencomputing als erste Priorität zugewandt haben. Hätte man damals schon gewusst, wie sich das Internet entwickeln würde, hätte man wahrscheinlich Rahmenbedingungen geschaffen, die eine Machtkonzentration bei wenigen großen Firmen verhindert hätten. Heute versuchen Politiker, dies im Nachhinein zu regulieren, was sehr schwierig ist. Wir wollen jetzt darüber nachdenken, was es braucht, damit dieser technologische Durchbruch zum Wohle der Menschheit genutzt werden kann und nicht nur als Machtbasis für einige Privilegierte dient.
CS: Eines Ihrer Themen bei GESDA ist auch Künstliche Intelligenz. Wie sehen Sie diese Perspektive? Wie könnte sich KI entwickeln, wenn wir eines Tages Quantencomputer und Quantenalgorithmen haben?
BL: Wir hatten Künstliche Intelligenz von Anfang an auf unserem Radar. Allerdings kamen wir schnell zum Schluss, dass wir hier nicht mehr viel antizipieren können, weil die Entwicklung so rasant voranschreitet. Mit dem Open Quantum Institute wollen wir nun genug Zeit haben, alles gut zu durchzudenken. Und wir wollen sicherstellen, dass alle Beteiligten einbezogen werden, auch diejenigen aus weniger begünstigten Ländern und Kontinenten wie Afrika.
Bisher laufen die Politik und die Regulierung immer der Technologie hinterher. Wenn wir über Technologie sprechen, diskutieren wir ja meist nur den technologischen Fortschritt, aber nicht die dahinterstehende Politik. Jemand wie Elon Musk etwa nutzt seinen technologischen Vorsprung für seine politische Meinung aus. Das wird in der Öffentlichkeit nicht genügend diskutiert. Man muss mehr darüber sprechen, welche Macht diese Technologie für die Politik bringt und wie sie in einer Demokratie gesteuert werden kann.
CS: Es ist bemerkenswert, dass sich bei GESDA Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zusammentun, um klare Prognosen abzugeben. Auf der anderen Seite sind hier in Genf bei GESDA auch Diplomatie und Politik involviert. Was könnte die Kombination von Künstlicher Intelligenz und Quantencomputing, global gesehen, künftig bewirken?
BL: Beschleunigung ist der Schlüssel. Die menschliche Intelligenz basiert auf einem chemischen Prozess, während künstliche Intelligenz auf einem elektronischen Prozess beruht, der 1000 bis 10.000 Mal schneller ist. Das erklärt, warum Maschinen heute so viel schneller lernen können. Wir brauchen fast 18 Jahre, bis wir endlich die Matura machen können, das Abitur. Eine Maschine bräuchte dafür vielleicht zwei, drei Minuten. Wenn Sie nun Quantencomputing hinzufügen, beschleunigt es das heutige Computing noch um das tausendfache, zehntausendfache oder um sogar noch mehr. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Es ist eine spannende Zeit, die wir im Voraus antizipieren und nicht im Nachhinein regulieren wollen.
CS: Warum engagieren Sie sich persönlich so sehr für diese Arbeit? Sie könnten jetzt ja auch Skifahren gehen oder Segeln oder sonst etwas unternehmen.
BL: Ich glaube, für jeden, der daran interessiert ist, die Zukunft zu gestalten, ist dies eine einzigartige Möglichkeit, daran teilzunehmen. Ich finde es persönlich eine enorme Bereicherung und eine wunderbare Aufgabe für meine letzten Jahre.
CS (lächelt): Soweit ist es ja noch nicht… Sie kommen ursprünglich aus der Wirtschaft. Jetzt vermitteln Sie zwischen Wissenschaft, Politik, Diplomatie und auch dem Business. Sie wissen also um die Rolle der Wirtschaft in diesem Konstrukt. Sie ist hier ein starker Partner.
BL: Wir haben sehr starke Partner im Open Quantum Institute. Was mich am meisten freut, ist, dass wir große Firmen wie auch IBM oder Google mit dabei haben. Diese haben verstanden, dass es auch für sie besser ist, wenn wir gemeinsam forschen, antizipieren, und nicht einfach loslaufen, um dann im Nachhinein regulieren zu müssen. Das zeigt, dass das System in der Vergangenheit nicht optimal funktioniert hat. Wir glauben, dass wir durch gute Antizipation die Zukunft besser gestalten können.
*Der gebürtige Österreicher Peter Brabeck-Letmathe absolvierte sein Wirtschaftsstudium an der Hochschule für Welthandel in Wien. Von 1997 bis 2017 war er zuerst CEO und dann Präsident des Verwaltungsrats von Nestlé. Er bekleidet diverse Aufsichtsratsmandate. Seit der Überwindung seiner Krebserkrankung widmet der begeisterte Bergsteiger vor allem GESDA seine ganze Kraft.
Copyright Fotos: Gruppenfoto: © CERN / GESDA (Peter Brabeck-Letmathe steht in der Mitte vorne, Christoph Santne ist in der dritten Reihe der Vierte von Links.)
Foto Brabeck-Letmathe und Santner: © Christoph Santner, aufgenommen von Marketing-Direktor Jean-Marc Crevoisier, GESDA